Sehr verehrte Gäste, liebe Freunde, liebe Kunstinteressierte,
Mein Name ist Klaus Enßlin, ich freue mich sehr, hier in der Galerie Gunzoburg ausstellen zu können. Dafür meinen besten Dank an die Verantwortlichen des IBC. Ein großes Dankeschön auch für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Ausstellung.
Titel De FACTO
Unter dem Titel „DE FACTO.“ sind nun also hier 20 Arbeiten …. Einzelbilder und kleinere Skulpturen zu sehen. De Facto heißt soviel wie „in Wirklichkeit“ …. und es meint, dass das was wir wahrnehmen und erfahren unter Umständen von dem abweicht, was man uns beigebracht hat, wie wir es gelernt haben und wie es den Regeln nach eigentlich sein sollte.
De Facto beschreibt also Umstände, da stellen wir fest, dass Regeln außer Acht geblieben sind. Bezogen auf die bildende Kunst finde ich diesen Zustand sehr inspirierend und höchst spannend. Damit wollte ich mich heute und in dieser Ausstellung auseinandersetzen.
Erster Aspekt – Der Kunstraum
Als Kunst zu einem neuen Mittelpunkt für mich wurde, drängte sich die Frage auf, was ist eigentlich die Kunst und wie funktioniert sie? und wonach richtet sie sich? Wer legt die Regeln fest? Wann ist Kunst … Kunst? und warum wird Kunst von so vielen Leuten so unterschiedlich beurteilt. Wonach wird sie überhaupt beurteilt? Ich suchte nach Regeln, an denen ich mich orientieren könnte.
Durch ein Kunststudium an der Akademie hatten viele von uns gehofft, ein Lehrbuch vorzufinden, einen Meister, nach dessen Regeln zu handeln wäre und an dessen Ende für den Künstler dann alles klar sei.
Nun, ich kann Ihnen sagen, so war es nicht. Es wäre ja zu einfach, wenn der Nutzen der Akademie allein darin bestünde, immer gleiche Ergebnisse, gleiche Bilder, gleich geformte Künstler hervorzubringen. … quasi „genormt“. Diesen Kunstabschluss nach Maß gibt es nicht. Es gibt kein Richtig und kein Falsch! Es gibt keinen Soll-Zustand. Kunst entzieht sich dieser absoluten Norm. Ich meine damit nicht die technischen Aspekte, sondern die gestalterischen Aspekte.
Josef Beuys hatte die Auffassung vertreten, alles ist Kunst und jeder ist Künstler, wenn er kreativ ist. ….. Und Markus Lüpertz hat uns klar gemacht, dass es keine neue Kunst gibt, sondern nur neue Künstler. Das was wir suchen, müssen wir selbst erfinden, jeder in seinem Kunstraum, jeder sein eigenes Regelwerk. Wenn man sich auf diese Lehrsätze einlässt, erklärt sich zumindest eines in der Kunst:
Nicht der Betrachter, nicht der Außenstehende, noch nicht einmal der Dozent definiert, was Kunst ist, wie Kunst zu sein hat, sondern der Künstler selbst und nur er allein. Erst mit der Kenntnis des individuellen Regelwerks, kann ein Urteil gefällt werden. Erst dann gibt es ein Gut oder Schlecht. Erst dann kann man die richtigen Maßstäbe anlegen.
Die Streitigkeit, ob Kunst wertvoll oder banal ist, resultiert also auch aus dem Missverständnis beim Anlegen von Qualitätsmerkmalen, die abseits des vom Künstler aufgespannten Kunstraums liegen. Mit anderen Worten: wer in England den tadelt, der auf der falschen Straßenseite fährt, der hat nicht verstanden, dass England ein anderes Regelwerk hat. Diese Fahrer sind genauso gut, auch wenn sie vermeintlich falsch fahren.
Bilder sind de facto eben mehr als die bloße Zurschaustellung im Betrachter-Raum. Wer in eine Ausstellung geht, muss wissen, dass er den Künstler-Raum betritt, und ihm Bilder gegenüberstehen, die die Sprache des Künstlers sprechen und nach seinen Regeln entstanden sind.
Diese vielfach empfundene Widersprüchlichkeit und das Dilemma in der modernen Kunst lösen sich erst dann auf, wenn man akzeptiert, dass neben der gelebten Wirklichkeit des Betrachters, eine weitere Wirklichkeit, nämlich die des Künstlers, existiert. Beide Seiten haben also recht. De facto leben sie in einer Koexistenz. Das Kunstverständnis verlangt, mehrere parallele Welten zuzulassen. Auch von Künstler zu Künstler! Das ist der Schlüssel.
Und hätten wir nicht die Akademien, Museen, Sammlungen und Galerien, würden wir vermutlich nie gelernt haben, dass Schüttungen von Pollock, Flächen von Rothko oder Gitterlinien von Mondrian … einem eigenen Regelwerk entsprungen sind und erstklassige Kunst darstellen … auch wenn sie von einigen Kritikern anfänglich als trivial empfunden wurden.
Zweiter Aspekt – die Ungegenständlichkeit
Als Kasimir Malewitsch 1915 der Welt sein Schwarzes Quadrat auf weißem Grund präsentierte…. war die Empörung riesengroß. Als „tot“, als „nichts“ wurde dieses Bild beschimpft. Es war eines der radikalsten Bilder der Kunstgeschichte und begründete doch eine eigene Stilrichtung: den Suprematismus.
Ich mag dieses Beispiel, weil es verdeutlicht, dass Regelbruch nichts Schlimmes ist. Im Gegenteil. Die Kunst braucht das, ein neuer Kunstraum entsteht …. durch die Abkehr von den gewohnten Regeln. Eine Art Erweiterung um ein neues Regelwerk.
Und noch aus einem anderen Grund habe ich Malewitsch genommen: Er wollte die Kunst von figürlicher Darstellung befreien, alles Sinnliche – Farbe, Plastizität und Raum – aus dem Bild nehmen und damit jeglichen Bezug zur Gegenständlichkeit auflösen. Er war es, der den Begriff des Ungegenständlichen erschaffen hat. Heute nennen wir das: Abstraktion.
Viele von uns beschäftigen sich mit der abstrakten Malerei. Ich selbst bin deshalb noch einmal zur Schule gegangen: habe hier in Überlingen und später in Kolbermoor studiert. Was lernt man da? Wie gestaltet man also den eigenen Kunstraum, die eigenen Regeln?
Ich habe mich sehr früh für ein Repertoire aus Aktzeichnungen, das Motiv des Aktes entschieden. Vermutlich, weil es in der Akademie üblich war, das erste Jahr nur Aktzeichnen zu üben, sehr oft, sehr lange. Lüpertz´ Devise war: Zeichnen kann man lernen, Malen muss man erfinden. Zeichnen ist Fleißarbeit, konzentriert, ständige Kopfarbeit. Sehen | Begreifen | Umsetzen. Was dann über den Kopf gelenkt in der Malerhand ankam und auf Papier sichtbar wurde war allerdings höchst unterschiedlich. Wie dem auch sei, so gut man Akte zeichnen konnte, so schwer empfanden wir es alle, im 2. Lehrjahr Bilder zu malen.
Wie kommt man also von der Zeichnung, vom Entwurf zur Malerei? Und nachdem wir des Zeichnens überdrüssig wurden, wollte keiner mehr gegenständlich malen. Die meisten sind in die Abstraktion „geflüchtet“. Das ging am schnellsten oder sollte ich sagen: am einfachsten. Aber auch das war ein Trugschluss, wie wir schnell festgestellt haben.
Der Weg in die Abstraktion führt de facto immer nur über den Gegenstand. Was will man auch abstrahieren, also vereinfachen, wenn gar nichts vorliegt, zugrunde liegt.
Während vieler Bildbesprechungen sind wir der Frage nachgegangen, ob abstrakte Malerei Grenzen kennt, und warum die Gegenständlichkeit unverzichtbar in der Malerei sind. Aber nicht um den Gegenstand zu malen, sondern um die abstrakte Malerei zu erweitern. Ihr Reichtum liege zweifelsohne in der Gegenständlichkeit.
Zitat: „Wir verfügen in der Gegenständlichkeit, also in der Natur, über eine unendliche Quelle und ein unerschöpfliches Repertoire für die abstrakte Malerei“, so resümierte Lüpertz und es wurde eine der wichtigsten Erkenntnisse des Studiums bei ihm.
Wem es gelingt, einen Gegenstand so weit zu abstrahieren, dass er an der Grenze zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher Malerei sichtbar wird, der hat das seltsame Geheimnis des Spannungsaufbaus in der modernen Kunst für sich entdeckt.
Dieser Leitgedanke war wichtig: im Gegenständlichen zu beginnen und den Weg zur Ungegenständlichkeit zu suchen.
Der Akt als gegenständlicher Ausgangspunkt und seine geometrische Vereinfachung hin zur Ungegenständlichkeit wurde zum Schlüssel meiner Arbeit. Das was Sie in dieser Ausstellung sehen, ist genau das Resultat dieses Entschlusses. Dabei hat sich gezeigt, dass die Intensität der Abstraktion ebenso unerschöpflich ist wie die Wahl des Gegenstandes selbst auch. Es entwickeln sich methodische Schleifen und Ableitungen, neue Spielräume, Kunsträume eben, neue Rhythmen.
Ich persönlich finde es faszinierend, diesen Abstraktionsprozess selbst zu steuern. Ich selbst bestimme, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Wieviele Schleifen der Vereinfachung und Verfremdung eines Gegenstandes ich ziehe.
Bezug zu den ausgestellten Arbeiten
- In dieser Ausstellung finden sich Bilder, die sehr stark abstrahiert sind, wo der Gegenstand quasi untergegangen ist. Dennoch war eine Figur am Anfang da. Aber sie ist weg und das Bild wirkt ungegenständlich.
Das sehen Sie beispielsweise in den Bildern Grazie I und II.
- Im Gegensatz dazu gibt es Bilder, da sind die Akte sehr deutlich geblieben, wenn auch schon leicht entfremdet. Das sind beispielsweise die Bilder der Nymphen oder Plejaden im hinteren Raum
Auch die kleinen Bronzen und Plastiken sind wenig verfremdet und bleiben in der Gegenständlichkeit, wenn auch ein wenig gestreckt oder gebrochen (manieriert).
- Und dann gibt es eben Bilder, die sind so in der Mitte zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit. Z.B. die Bilder SHE II und Dryade III ebenfalls im hinteren Raum
- in den Triptychen Fabula I und II sind hingegen die Hintergründe total abstrakt und die Motive wieder als Scherenschnitte sichtbar. Das gleiche gilt für die Bilder HAP und JUPP, hier hinter uns. Oder die Ferryman Serie.
Schluss
Jetzt habe ich Ihnen viel Akademisches erzählt und hoffe, Sie können die Ausstellung nicht nur mit ihren Augen, sondern auch mit meinen Augen sehen. Ihnen viel Spaß beim Rundgang und besten Dank fürs geduldige Zuhören.